Gerhard Zickenheiners Interview mit der Basler Zeitung: Die Schweiz und die EU nach dem Abbruch der InstA-Verhandlungen


Gerhard Zickenheiner MdB, Berichterstatter für die Schweiz im EU-Ausschuss, und Christa Tobler, Professorin für Europarecht am Europainstitut der Universität Basel, im Doppelinterview mit der Basler Zeitung zum Thema „Nach Verhandlungs-Aus mit der EU: Wie schockiert sind Sie über den Entscheid des Bundesrats?“

Basler Zeitung: Herr Zickenheiner, wie schockiert sind Sie über den Entscheid des Bundesrats, die Verhandlungen über ein institutionelles Abkommen abzubrechen?

Gerhard Zickenheiner: Vollkommen überraschend war es für uns, die wir die Verhandlungen verfolgt haben, nicht. Doch wirklich erwartet habe ich den Entscheid nicht. Eigentlich haben alle gehofft, dass wir noch eine Lösung finden, zumal die Kommission in den letzten Wochen noch auf den Bundesrat zugegangen ist.

Erhalten Sie in Lörrach auch Reaktionen aus der Bevölkerung?

Zickenheiner: Es beschränkt sich vor allem auf politische Kreise. Betroffene Unternehmer haben aber auch reagiert, besonders solche, die von der gegenwärtigen Krise betroffen sind. In Lörrach haben auch viele Angst, die in die Schweiz zur Arbeit pendeln, denn sie könnten als Erste von den Folgen betroffen sein.

Was ist in unserer Region – auf beiden Seiten der Grenze – nun zu tun?

Zickenheiner: Wir müssen jetzt gut zusammenarbeiten. Mehr denn je sollten wir die politischen Verantwortlichen in der Region dafür gewinnen, nach Möglichkeiten zu suchen, wie sich die Folgen mildern lassen. Dazu braucht es wohl etwas Zeit und genaue Analysen. Zu prüfen ist insbesondere, wo wir bilateral etwas unternehmen können. Die Interessenlage ist gegeben. Auch in der Vergangenheit haben wir das schon getan, zuletzt bei der bilateral kompatiblen Corona-App.

Welche Vereinbarungen lassen sich auf der bisher gültigen Rechtslage treffen, Frau Tobler?

Christa Tobler: Es kommt darauf an. In Gesundheitsfragen sind Vereinbarungen möglich, denn diese liegen in der EU in der Kompetenz der Mitgliedsstaaten. Beim Warenhandel allerdings dürfen die Mitgliedsstaaten überhaupt nichts allein regeln. Schwierig ist es auch in Angelegenheiten, bei denen es gemischte Kompetenzen gibt, etwa bei der Personenfreizügigkeit – besonders wenn es schon ein Abkommen dazu gibt. Möglich sind in der Schweiz aber einseitige Regelungen: für alles, was in die Schweiz importiert wird.

Bundesrätin Karin Keller-Sutter hat am Mittwoch auch angekündigt, sie prüfe nun im Auftrag des Bundesrats mögliche unilaterale Anpassungen an das EU-Recht. Bereits in der Vergangenheit wurde beispielsweise das Cassis-de-Dijon-Prinzip einseitig eingeführt. Sehen Sie weitere Felder?

Tobler: Da ist relativ viel möglich. Nur beschränkt sich dies auf das, was von der EU in die Schweiz kommt. Wir sind aber ein Exportland. Da werden sich die wirklichen Schwierigkeiten einstellen. Bei Med-Tech-Produkten haben wir ab heute schon ein Problem, weil die bisherige Regelung soeben abgelaufen ist. Es gibt für die EU keine rechtliche Pflicht, bilaterale Verträge aufzudatieren und Folgen auslaufender Regelungen zu mildern.

Was ist jetzt zu erwarten, welche Interessen verfolgt die EU? Muss die Schweiz jetzt mit Bestrafungsaktionen rechnen?

Zickenheiner: Bestrafungsaktionen sicher nicht. Aber Konsequenzen sind zu erwarten. Die EU muss darauf achten, nicht unterschiedliche Rechtsformen zu schaffen. Damit würde sie die Tür für weitere Begehrlichkeiten öffnen. Auch geht es nicht, Nichtmitgliedsstaaten besser als Mitgliedsstaaten zu stellen. Deshalb wird es jetzt schwierig. Die EU wird konsequent bleiben müssen. Sie musste es auch in den Verhandlungen sein.

Tobler: Also ich muss schon sagen, in einem Punkt ist die EU unnötig hart. Bei der Unionsbürgerrichtlinie hätte die EU durchaus mehr Grösse zeigen können. Doch das wollte sie nicht. Aus meiner Sicht ist es sachgerecht zu sagen, dass gewisse Teile der Unionsbürgerrichtlinie nicht zum bilateralen Recht zählen. Aber auch das Rahmenabkommen würde hier funktionieren, denn es besagt ja nur, dass darüber verhandelt werden kann. Und bei diesen Verhandlungen hätte es gute Argumente gegeben, Teile der Richtlinie von der Übernahmepflicht auszunehmen. Die Schweiz zahlt den Preis dafür, dass im  EWR grundsätzlich die ganze Unionsbürgerrichtlinie übernommen wurde. Das Abkommen ist aber nicht wirklich nur an dieser einen Differenz gescheitert.

Ist der Abbruchentscheid des Bundesrats vor allem ein politischer Entscheid?

Tobler: Ja. Die Folgen wurden zuwenig bedacht. Ich bin überzeugt, die Probleme mit der Unionsbürgerrichtlinie und mit den flankierenden Massnahmen hätten sich lösen lassen. Es ist mehr als bedauerlich, dass der Bundesrat diesen Prozess nun einfach abgeblockt hat.

Zickenheiner: Ich teile diese Einschätzung. Merkwürdig ist auch, dass man in der Schweiz nun erwägt, erhöhte Kohäsionsbeiträge zu bezahlen. Das dürfte ja viel teurer werden als die erwarteten Mehrkosten bei einer Übernahme der Unionsbürgerrichtlinie.

Tobler: Das Missverständnis in der Schweiz ist, es liesse sich mit den Kohäsionsbeiträgen etwas erkaufen.

Was braucht es, um Verhandlungen neu aufzunehmen?

Zickenheiner: Das kann sich über Jahre hinziehen. Den Beschluss eines Neubeginns fasst nicht die Kommission. Dazu müssten die 27 Mitgliedsstaaten ein neues Verhandlungsmandat verabschieden. Dafür ist die Stimmung schlecht. Allerdings: Die Kommission hat nach dem Bundesratsentscheid gesagt, aus ihrer Sicht bleibe die Tür offen, aber hinter der Tür liegt das InstA.

Tobler: Ja, nur für Gespräche auf der Grundlage des jetzt vorliegenden institutionellen Abkommens. Die Schweiz hat diese Verhandlungen beendet. Für alles andere braucht es neue Verhandlungsmandate.

Müssen wir uns entsprechend auf eine lange Durststrecke einstellen? Nach dem EWR-Nein in den 90er-Jahren hat es sieben Jahre bis zu den bilateralen Verhandlungen gedauert.

Zickenheiner: Im Fall von Japan und Kanada hat es nach gescheiterten Verhandlungen über zehn Jahre gedauert.

Tobler: In diesen Jahren sind grosse Probleme absehbar. Denken wir an die Forschung, an das fehlende Stromabkommen oder an ein eigentlich nötiges Gesundheitsabkommen. Ich verstehe nicht, dass dies der Bundesrat nicht deutlich stärker gewichtet hat. Beim Strom, wo die Gespräche schon relativ weit fortgeschritten waren, stehen die Versorgungssicherheit und die Netzstabilität auf dem Spiel.

Zickenheiner: Beim Strom sind grosse Probleme absehbar. Ohne Europa wird die Schweiz die beabsichtigte Klimaneutralität bis 2050 kaum erreichen. im schlimmsten Fall wird schon bald wieder über die Kernkraftwerke und ihre Laufdauer gesprochen werden.

Der Bundesrat spricht weiter davon, die bilateralen Verträge zu optimieren.

Zickenheiner: Das Gesprächsangebot der EU bezieht sich nur auf das vorliegende institutionelle Abkommen. Neue Gespräche gingen nur über eine Rolle rückwärts, an den Punkt, wo man jetzt ausgestiegen ist. Ich bin deshalb gespannt, wie die Öffentlichkeit in der Schweiz reagiert. Die Aussenpolitische Kommission hat ja gefordert, die Folgen eines Abbruchs und den Plan des Umgangs damit vor einem Abbruch offenzulegen, was der Bundesrat nicht geleistet hat. Meines Wissens sind in der Schweiz 2023 Wahlen. Das dominierende Thema wäre gegeben.

Tobler: Im Parlament gibt es eine Motion, die eine Überweisung an das Parlament fordert. Andere Stimmen sagen, der Bundesrat habe seine Kompetenzen überschritten. Es dürfte allerdings schwierig sein, solche Punkte zum Rettungsanker zu machen. Das Fait accompli besteht und lässt sich wohl nur schwer revidieren.

Begründet wurde der Verhandlungsabbruch zwar mit den besprochenen Differenzen. Doch in der Schweiz gibt es auch jene, die von Anfang an die Anbindung an den Europäischen Gerichtshof kritisiert haben: alles fremde Richter. Könnte in der Zukunft ein Weg über ein Efta-Gericht mit Schweizer Beteiligung zielführend sein – wie dies seinerzeit beim EWR-Beitritt geplant war?

Tobler: Es war der Bundesrat, der von Anfang an eine Anbindung an den Europäischen Gerichtshof wollte. Persönlich habe ich schon damals davor gewarnt. Eine EWR-Variante wäre psychologisch besser. Doch die Situation ist nicht mehr dieselbe wie damals. Ich bezweifle, ob die EU heute noch bereit wäre, zur Variante Efta-Gericht zurückzukehren. Und: Das Grundproblem bleibt dasselbe. Ein Efta-Gericht ist an die Entscheide des Europäischen Gerichtshof gebunden. Es geht um EU-Recht, entsprechend ist es blauäugig zu glauben, es gehe ohne irgendeine Rolle des EU-Gerichtshofs. Der Zugang zum Kronjuwel der EU, zum Binnenmarkt ist nun mal an gewisse, auch rechtliche Bedingungen geknüpft.

Zickenheiner: Die in der Schweiz oftmals negative Darstellung der Rolle des Europäischen Gerichtshofs ist überzogen. Die EU verfolgt keineswegs das Ziel, neue Fallstricke zu setzen. Beim Lohnschutz etwa gibt es das klare Ziel der EU, die Schweizer Position „Gleichen Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort selbst umzusetzen. Der Gerichtshof würde folglich die Schweizer Lösung kaum torpedieren. Auch die EU-Mitglieder haben Verfahren beim Europäischen Gerichtshof, wir sid gelegentlich froh, wenn dort manchmal etwas durchgesetzt wird, was wir national nicht umgesetzt haben. Die EU lebt schließlich vielmehr von der guten Zusammenarbeit untereinander.

Tobler: Immerhin hat die EU beim Lohnschutz u.a. eine Viertagesregelung angeboten, eine Sonderlösung, die über das heutige EU-Recht hinausgeht.

EU-kritische Kreise in der Schweiz schlagen vor, ein Abkommen nach dem Vorbild Kanadas anzustreben. Ein Ausweg?

Tobler: Das wäre im Vergleich zu heute ein totaler Rückschritt. So verlöre man den Zugang zum Binnenmarkt definitiv. Das würde die Schweiz Millionen kosten. Und Arbeitsplätze dazu.

Was können die Akteure in der Region Basel, im Dreiland dazu beitragen, das Image der EU in der Schweiz zu verbessern?

Zickenheiner: Ich habe durchaus wahrgenommen, dass sich die Nordwestschweiz in Bern sehr stark um eine Lösung bemüht hat. Man ist aber halt nicht durchgedrungen. Das Imageproblem wurde leider durch die politischen Massnahmen verstärkt. Schädlich für´s Image des InstA waren sicher auch die beiderseits angewendeten Repressalien wie die verweigerte Börsenäquivalenz und das Zurückhalten der Kohäsionsgelder. Das hat sich schädlich ausgewirkt. Ich hätte mir da mehr diplomatisches Fingerspitzengefühl gewünscht.

Wenn Sie sich getrauen, Herr Zickenheiner, der Schweiz in der jetzigen Situation einen Ratschlag zu geben, was würden Sie vorschlagen, um das Verhältnis zwischen der EU und der Schweiz zu verbessern?

Ein Ratschlag steht mir eigentlich gar nicht zu. Doch wenn ich jetzt die Perspektiven anschaue, hoffe ich, dass die Schweiz nachholt, was sie längst hätte tun können: Den Diskurs über das Verhältnis zur EU zu führen. Und sich zu fragen: Wären wir nicht souveräner, wenn wir durch das Rahmenabkommen zukünftig bei Angelegenheiten, die die Verträge anbelangen, mitentscheiden könnten?